In der Sammlung der Staatsbibliothek Bamberg befindet sich, in einem Blockbuch zusammengebunden mit anderen religiösen Werken, ein nur 16-seitiges Büchlein, welches „Bamberger Zeitglöcklein“ genannt wird. Es wurde um 1475 gedruckt und erzählt die Leidensgeschichte Christi in 24 durchgehend handkolorierten Bildern. Die Bilder sind jeweils mit einem kurzen Hinweis versehen und entsprechen den 24 Stunden des Tages – daher „Zeitglöcklein“. Das Büchlein sollte zur persönlichen Andacht im Rahmen der Stundengebete anleiten und war wohl für die Mitglieder des Bamberger Franziskanerklosters bestimmt. So zeigt das letzte Bild auch den Heiligen Franziskus. Vermutet wird, dass ein paar Hundert dieser Büchlein gedruckt worden sind, aber erhalten ist nur dieses eine Exemplar. Im Bilderkreuzweg wird eine Auswahl von 12 Bildern betrachtet.
http://digital.bib-bvb.de/view/bvb_mets/viewer.0.6.5.jsp?folder_id=0&dvs=1685183082421~225&pid=1593193&locale=de&usePid1=true&usePid2=true
Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.
Dafür klopft das Schicksal bisweilen heftig an die Tür und erzwingt sich den Einlass.
Braucht es dieses Klopfen und den Stundenschlag, dass wir innehalten und aufmerken? Dass wir zur Besinnung kommen und uns Zeit nehmen? Die Zeit, die alles Irdische endlich, aber auch wertvoll macht.
Ich steh und klopfe – ruft uns das noch kleine Christkind zu.
Nimm dir die Zeit! Ganz bewusst. Nimm dir Zeit zum Nachdenken über Leid, Tod und Leben.
Mit den Schuhen an den Füßen und dem Stab in der Hand sollt ihr das Passalamm essen (Ex 12). Denn ihr müsst zum schnellen Aufbruch bereit sein, wenn Gott euch aus Ägypten herausführt.
Ägypten steht für Bedrängnis und Unfreiheit. Ägypten steht für die Welt des Todes. – Gott will herausführen – in die Freiheit, neu ins Leben hinein.
Das Blut des Passalamms am Rahmen der Tür ist das Zeichen der Freiheit. Der Todesengel sieht das Blut des Passalamms und geht vorüber.
In dieser uralten Tradition ihres Volkes halten Jesus und seine Jünger das Passamahl. Ihre Augen richten sich hier auf das Lamm. Dargebracht als Opfer für die Freiheit.
Kann es Freiheit ohne Opfer geben?
Wir schauen uns um in unserer Welt, in der Demokratie und Freiheit von so vielen mit Füßen getreten werden als wären sie nichts wert, als hätten sie nicht vieler Opfer bedurft, als wäre sie nicht schwer errungen, als müsste man nicht auf sie achten.
Was sind uns Freiheit und Leben wert? Wieviel sind wir bereit, zu tun, um sie zu bewahren?
Noch beim gemeinsamen Mahl beginnt Jesus seinen Jüngern die Füße zu waschen. – Der Lehrer wäscht seinen Schülern die Füße, der Herr dem Diener. Welch Umkehrung der Ordnung!
Passt das in unser Denken? Können wir da mitgehen?
In unserer Welt sind doch die Hierarchien festgelegt, oben und unten, Macht und Machtlosigkeit haben ziemlich festen Bestand. Wohin soll das führen, wenn man diese Ordnung umkehrt?
Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße. Er stellt sich in ihren Dienst.
Das ist die Ordnung Gottes.
Das Kleine wird groß.
Das Große klein.
Die Letzten werden die Ersten sein.
Sind das nur schöne Worte oder könnten wir uns – wenigstens dann und wann – daran wagen, die altgewohnte Menschenordnung zu durchbrechen?
Das Passamahl, das zum Abendmahl wurde, liegt noch nicht lange zurück. Doch damit stehen Leiden und Sterben von Jesus nun im Raum. Die Jünger verstehen nicht, wollen nicht und können nicht verstehen. Als der unruhige und ängstliche Jesus im Garten Gethsemane beten will, erliegen sie ihrer Müdigkeit.
Doch die Gefahr braut sich zusammen. Mit Spießen, Stangen und Fackeln werden sie kommen, um Jesus gefangen zu nehmen. – Wie soll diese Sache noch gut ausgehen können?
Jesus bleibt in seiner Angst allein.
Was bleibt in der Angst? Was soll man tun, wenn man nichts tun kann? Not lehrt beten, sagen manche.
Bei Jesus ist der Faden des Gottesgesprächs nie abgerissen. Bei ihm ist es vielmehr die Frage nach Gehorsam gegenüber Gott und Hingabe bis zum Tod. – Ein unglaublich schwerer Weg, um ihn bis zum Ende zugehen. – Ist das sein Weg? Hat er die Kraft dafür?
Wieviel Gehorsam und wieviel Hingabe und Kraft wenden wir für Gott auf?
Dann sind sie da. Mit Gewalt und Waffen soll Jesus Christus, das Wort Gottes, zur Ruhe gebracht werden.
Ausgerechnet ein Kuss, Zeichen der Liebe, wird zum Zeichen des Verrats. Judas hatte seine Hoffnungen so sehr in Jesus gesetzt. Mit ihm als Herrscher sollte alles anders werden. Die Unterdrückten sollten wieder atmen können, die Hungrigen satt werden. Er hatte nicht nur für sich gehofft, war nicht einfach nur ein geldgieriger Egoist. Judas war aus tiefstem Herzen enttäuscht und wie schnell kann enttäuschte Liebe in Hass umschlagen.
Und selbst in dieser Szene von Gewalt und Hass bleibt Jesus der Heilsame. Als Petrus dem Diener Malchus das Ohr abschlägt, um Jesus zu verteidigen, sorgt Jesus dafür, dass Malchus diesen Schaden nicht behält. Er heilt ihn.
Wie heilsam sind wir in Szenen von Streit und Gewalt? – Worte werden hierzulande immer schärfer, auch tätliche Gewalt gegen Andersdenkende nimmt zu. Gießen wir mit Worten und Taten eher Öl ins Feuer wie Petrus oder sind wir heilsam und befriedend wie Jesus?
„Bist du der König der Juden?“, will Pilatus wissen.
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“, antwortet Jesus.
Pilatus kann keine Schuld an Jesus finden. (Joh 18, 28ff) Und doch wird Jesus gefoltert und hingerichtet.
Da steht sie, die Unschuld. Im weißen Kleid. Ins Räderwerk der Großen geraten. Die Räder drehen sich immer weiter und weiter, ohne Entkommen.
Auch heute kennen wir solches Unrecht. Wenn einfachen Menschen, die für ihr Recht oder das eines anderen eingetreten sind, plötzlich ein großer Prozess gemacht wird – mit überdimensionaler Strafe. Und am Ende steht der Ruin. Das ist nicht fair.
Dann sind wir fassungslos und versuchen mühsam zu verstehen. Wie konnte es dazu kommen? Warum ist das geschehen? Die Antwort, die Jesus Anhänger auf den unschuldigen Tod Jesu gefunden haben, heißt: „für unsere Sünden gestorben“. – Jesus unschuldiger Tod um unsere Beziehung zu Gott wieder zu heilen
Ecce homo. – Siehe ein Mensch.
Mit diesen Worten stellt Pontius Pilatus den gefolterten und mit Dornenkrone gekrönten Jesus vor das Volk. Verspottet, geschlagen, der Achtung beraubt.
Im Krieg vergessen die Kämpfenden, dass die Feinde gegenüber auch Menschen sind, Väter, Mütter und Kinder, die lachen, weinen, lieben und Schmerz empfinden. Nur so können sie töten.
Gewalt in Taten und Worten hört nur auf, wenn wir im anderen den Menschen sehen. Einen Menschen, den Gott genauso geschaffen hat wie mich und der ebenso Gottes Ebenbild ist. Ein Mensch dem Würde zu eigen ist. Siehe, ein Mensch.
Wie schaffen wir es im anderen den Menschen zu sehen, nicht nur mit den Augen sehen, sondern auch mit dem Herzen
- in dem Verwandten, mit dem ich zerstritten bin,
- in dem Politiker, mit dessen Entscheidungen ich nicht einverstanden bin,
- mit dem Geflüchteten, der über das Mittelmeer kommt.
Das Kreuz, das Jesus tragen muss, drückt schwer. Der Bauer Simon von Kyrene, der gerade vom Feld nach Hause kehrt, hilft ihm die Last zu tragen.
Simon tut das nicht freiwillig. Er wird von den römischen Soldaten dazu gezwungen. Es ist wohl menschlich, nicht alle Lasten freiwillig zu schultern. Das könnten wir auch gar nicht.
Aber in dem Moment, in dem Simon von Kyrene das Kreuz auf seine Schulter nimmt, bleibt die Last, die Jesus trägt, für ihn nicht mehr abstrakt und fremd. Er spürt sie selbst, wenigstens eine Zeit lang. Er schaut nicht mehr bloß zu, sondern trägt und leidet.
Er kommt damit Jesus näher als irgend ein anderer. Sie tragen die Last gemeinsam.
Wieviel Last tragen wir für andere mit? Freiwillig oder gezwungen?
Und wieviel geben wir von dieser Erkenntnis über die Last an andere weiter?
Sie hatten so sehr gehofft, dass es doch noch irgendwie anders ausgehen würde. Gebangt. Gebetet. Aber nun ist das Kreuz da. Unabwendbar. Das Ende in Sicht.
Wie soll man dieses Leid aushalten? Kann man das?
Nur wenige bleiben. Komme, was wolle. Die Liebsten. Wer auch sonst als die Liebe sollte das Leid aushalten?
Maria und Johannes stehen unter dem Kreuz.
Nicht nur Liebe verbindet, auch Schmerz und Leid. Vielleicht, weil sie nicht anders können, weil sie auf das setzen, was wirklich wichtig ist.
„Liebe ist stark wie der Tod“ singt das Hohelied Salomos (8,6).
Die Liebe hat selbst dem Tod etwas entgegenzusetzen,
weil Gott die Liebe ist (1Joh 4,16b).
Und weil die Liebe alles lebendig macht.
„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23,46)
Das sollte nicht der Gang der Welt sein, dass die Kinder vor den Eltern sterben. Und doch kommt es vor.
Durch Krankheit. Durch Gewalt. Durch Krieg.
Tausendfach. Millionenfach.
Aber diesen unerträglichen Schmerz kann man nicht in addierenden Zahlen messen.
Millionenfach wird ein einzelnes Leben zerstört. Das Herz einer Mutter, eines Vaters, einer Schwester oder eines Bruders gebrochen. Der Ast der Hoffnung abgesägt. Wie soll man das begreifen?
Verwaiste Eltern. Den Schmerz trägt man sein ganzes Leben mit sich.
Maria hält ihren toten Sohn im Schoß.
Der Moment, in dem alles stillsteht.
Ein Moment der Ewigkeit. Danach kommt nichts mehr.
Irgendwann muss alles zu Ende gebracht werden, wie schmerzlich es auch immer ist.
Sie legen den toten Jesus ins Grab.
Plötzlich muss ich Geliebtes loslassen.
Muss meine Hoffnungen begraben.
Das Leben in einer Sackgasse.
Trauer und Dunkelheit schließen mich ein.
Und dann?
Gibt es ein „und dann“?
Wo wurzeln meine Hoffnungen?
Oder ist das für mich das Ende?
Am Ende des Bamberger Zeitglöckleins steht ein Bild von Franz von Asissi. Jesu Wunden verbinden sich mit denen von Franziskus.
Ich lese das so: Jesus Christi Leiden ist nicht fern und vergangen. Es steht in Verbindung mit dem Leid der Menschen, die im Glauben auf Jesus sehen. Wir können unser Leid im Leiden Jesu wiedererkennen und er leidet mit uns mit.
In Christus wissen wir Gott im Leiden bei uns.
Im Hintergrund des Bildes, links, ein bisschen versteckt, können wir trotz allem Leid schon das offene Grab des Ostermorgens erkennen. Es leuchtet schon hell. Trotz allem Leid und trotz allem: Nicht -für – möglich halten.
Gott gebe uns, dass diese Helligkeit des Ostermorgens auch immer wieder in unser Leid und unsere Todesdunkelheit hineinscheint, damit wir nicht trostlos werden.